Dienstag, 22. Februar 2011

Kritik des praktischen Journalismus

Da ist es, das Wort. Sarrazin-Jahr. Özlem Topcu benutzt es in der aktuellen Ausgabe der ZEIT, als kunstvollen journalistischen Neologismus und als Abgrenzung des vergangenen Jahres zum laufenden 2011, das - nach allem, was man bisher sagen kann - als das muslimische Revolutionsjahr in die Geschichtsbücher eingehen wird. 2011 verspricht demnach das Jahr zu werden, indem Muslime ihre Demokratiefähigkeit, ihren Intellekt, ihre Fähigkeit, frei und unfundamental zu denken, bewiesen haben. Ganz anders als das Muslim-Image 2010. "Sind das nicht diejenigen, die bei Hartz IV abzocken, bildungsfern sind, den deutschen Staat ablehnen, im Wohnzimmer Scharia-Urteile sprechen, gewaltbereit durch Kreuzberg ziehen und am Fließband Kopftuchmädchen produzieren?", fragt Frau Topcu.

Als Leser wiederum stellt man sich zwei Fragen.
Erstens: Was soll eigentlich das ständige Reduzieren der arabischen Demonstranten auf ihre Religion? Liegt es nicht vielmehr in der Natur des - per se zum freien Denken neigenden und kein religiöses Gen besitzenden - Menschen, gegen seine Unterdrückung anzukämpfen? Das Besondere an den Aufständen besonders in Ägypten erschien mir jedenfalls bisher die Heterogenität der Demonstranten. Da stehen Musliminnen mit Kopftuch neben jungen Atheistinnen und alten Christen - und sind sich einig.
Wenn die Aufstände in Nordafrika einen Imagewandel erzeugen können, dann sollte der für den Menschen als solchen gelten, nicht für eine Religionsgemeinschaft.

Zweitens: Möchte man wirklich den Begriff "Sarrazin-Jahr" für eine Sache etablieren, die der Unsägliche nicht einmal selbst herbeigeführt hat? Ich weiß, was Frau Topcu mit dem Terminus meint, und das ist, so fürchte ich, das Gegenteil dessen, wozu er mutieren wird, sollte er sich dauerthaft durchsetzen. Wenn eine Ära nach einer (historischen) Persönlichkeit benannt wird, dann wirkt dieser Zeitraum für die Nachkommen ganz automatisch wie eine Zäsur. Als hätte der Namensgeber dieser Ära etwas geschaffen, das es vorher noch nicht gegeben hat. Das mag an mancher Stelle gerechtfertigt sein - wer hätte schon etwas gegen die Verwendung Freudscher oder kafkaesker Anspielungen oder dagegen, Konrad Adenauer als Synonym für eine danach nie wieder vorfindbare deutsche Kanzlerdemokratie zu bezeichnen. Sarrazin jedoch zuzugestehen, eine neue Debatte ausgelöst zu haben, schlägt gänzlich fehl, auch wenn er - allerdings nicht 2010 - das Patent auf die geistige Schöpfung "Kopftuchmädchen" erheben konnte. Am Ende könnte man Sarrazin nämlich noch zugute halten, er habe eine Diskussion angestoßen, die die Muslime als solche dazu motiviert hätte, sich als demokratiebejahende, freiheitsliebende und eigenständig denkende Lebewesen zu beweisen, um den Imagewandel, von dem Frau Topcu sprach, zu beschleunigen. Ich kann nur hoffen, dass das Wort "Sarrazin-Jahr" nicht die Runde macht. Sonst wirkt es in den Geschichtsbüchern des 22. Jahrhunderts noch so, als seien die Revolutionen in Nordafrika einem ehemaligen deutschen Bundesbanker zu verdanken.

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