Montag, 16. Mai 2011

Über den Dogmatismus von Völkerrechtlern

Sich in diesen Tagen Gedanken über die Beschaffenheit der Gerechtigkeit zu machen, ergibt ungefähr so viel Sinn wie nach dem Warum der krummen Banane zu fragen. Die Antwort muss auf ein ratloses Schulterzucken hinauslaufen, denn wer könnte schon mit Bestimmtheit sagen, ob die Tötung Osama bin Ladens gerecht war, ob es die Libyen-Resolution der UN ist oder ob jene Staaten gerecht sind, die sich bei der Abstimmung über die Resolution im Sicherheitsrat enthalten haben.

Politiker und Journalisten sind überfragt. Weil sie trotzdem eine Meinung haben möchten, haben derzeit in Talkshows und Podiumsdiskussionen die Experten auf diesem Gebiet Hochkonjunktur. Völkerrechtler sind so etwas wie Theologen, nur dass man sie gemeinhin ernster nimmt. Sie interpretieren das Völkerrecht als wäre es die Heilige Schrift. Ihr Wort besitzt eine geradezu universale Gültigkeit; gegenüber den religiösen Schriften hat das Völkerrecht allerdings den einmaligen Vorteil, dass die Existenz seiner Protagonisten völlig außer Frage steht.

Ähnlich den Theologen sind jedoch auch die Völkerrechtler gespalten, wenn es um Fragen von Krieg und Frieden geht oder darum, zu bewerten, ob ein Land seinen Staatsfeind Nummer eins auf dem Terrain eines anderen souveränen Staates töten darf. Das Völkerrecht sieht, in vager Formulierung, die prinzipielle Nichteinmischung souveräner Staaten in die Belange anderer souveräner Staaten vor - das impliziert selbstverständlich auch die Strafverfolgung.

Nun machen die einen Kenner des Internationalen Rechts im Fall Osama bin Laden Ausnahmeregelungen geltend oder verweisen auf die Paragraphen der Charta der Vereinten Nationen, in denen das Konzept des gerechten Krieges Eingang gefunden hat, das, je nach Interpretation, wie sich versteht, wiederum den Tyrannenmord durchaus legitimiert. Die Mehrzahl der (deutschen) Völkerrechtler scheint indessen zu der Ansicht zu tendieren, die Tötung Osama bin Ladens hätte nicht stattfinden dürfen - ebenso wenig übrigens seine Festnahme durch amerikanische Soldaten auf pakistanischem Gebiet.

Sollte dem so sein, steht die Weltengemeinschaft vor weiteren offenen Fragen: Ist ein kriegsähnlicher Zustand, bei dem Zivilisten sterben, die weniger Schuld auf sich geladen haben als Osama bin Laden, völkerrechtlich gerechtfertigt? Entspricht die Unterstützung potentiell demokratischer Rebellen dem, was die UN-Charta vorsieht? Und wer entscheidet, wann eine Einmischung legitim ist?

Was überall in der Justiz gilt, gilt auch für das Völkerrecht: Wenn die unteren Ebenen nicht weiter wissen, wendet man sich an die nächsthöhere Instanz. Als Supreme Court agiert dabei Helmut Schmidt. Bei Reinhold Beckmann erklärte er vergangene Woche das Völkerrecht for Dummies. Es gelte das Nichteinmischungsgebot, betonte Schmidt, in jedem Fall (ja, auch in Libyen, und ja, vermutlich auch in Ruanda).

Verständnis für Obamas Osama-Politik ist selbstverständlich auch bei Helmut Schmidt vorhanden, das unterscheidet ihn nicht vom Gros seiner Vorredner.
So viel Widerspruch auf einmal - was kann man da tun, mag sich der in Sachen Jura durchschnittlich gebildete Mensch da fragen.
Philosophen und Geisteswissenschaftler kennen eine ebenso schöne wie schlichte Antwort auf widersprüchliche Gedankengänge. Wenn etwas nicht funktioniert - eine Theorie zum Beispiel oder die praktische Anwendung eines Konzepts - dann fragt der Philosoph nicht, ob der Theoretiker alle Bestandteile der Theorie richtig verknüpft und angewandt hat. Der Philosoph prüft zuallernächst, ob die Prämisse, die der Theorie zugrunde liegt, überhaupt stimmt. Stimmt sie nicht, kann der Theoretiker alle Bestandteile der Theorie noch so korrekt verfolgt haben - das Ergebnis wird ein falsches sein.

Das Völkerrecht ist eine Ansammlung von Prämissen, die heute nicht mehr alle stimmen. Sie sind Überbleibsel aus der Zeit nach dem Westfälischen Frieden, und sie hatten ihre Daseinsberechtigung in einer Jahrhunderte dauernden Zeit, in der in der Welt wirtschaftlicher Austausch stattfand, aber kaum politischer. Heute sind sie veraltet. Es lohnt sich nicht, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob Obama oder die UN-Sicherheitsratsmitglieder sich an das Völkerrecht halten. Es würde sich lohnen, sich den Kopf über eine Reformierung des Völkerrechts zu zerbrechen. Die Charta der Vereinten Nationen ist nicht die Bibel und sie ist auch kein Dogma; das zu vergessen wäre fatal.

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