Montag, 28. März 2011

Keine "Responsibility to protect" für die Elfenbeinküste?

Von Julia

Beim täglichen Blick in die Zeitung wird der Leser derzeit mit vielen spektakulären Nachrichten konfrontiert. Das Jahr 2011 ist in der jüngsten Vergangenheit bisher wohl das ereignisreichste Jahr überhaupt – und das in den unterschiedlichsten Themengebieten. Die Presse kann sich die Finger lecken: Selten gab es so viel und vielfältiges zu berichten wie in den letzten Monaten – dabei ist das Jahr erst drei Monate alt. Facebook und die Jasmin-Revolution, der im Pharaonenthron festklebende Mubarak und die ägyptische Revolution, weitere Volksaufstände in der arabischen Welt, der Bombenanschlag auf den Moskauer Flughafen, das Superwahljahr und die momentan beherrschenden Themen, der libysche Bürgerkrieg und die humanitäre und nukleare Katastrophe in Japan: dieses Jahr hat alles zu bieten an Spannung und Dramatik (Natürlich auch Komödien, man denke nur an unseren Verteidigungsminister a.D.) Selbst Hollywood könnte viele Geschichten nicht besser schreiben.

Neben all der Hollywood-Dramatik des Jahres 2011 finden die humanitäre Katastrophe und der politisch-kriegerische Konflikt in der Elfenbeinküste kein Gehör. Der ivorische Konflikt bleibt eine Low-Budget-Produktion, die nirgendwo in den westlichen Kinos gezeigt wird. Armes Afrika, arme Elfenbeinküste! Nach den ivorischen Präsidentschafts-Wahlen im Dezember 2010 weigerte sich der abgewählte Laurent Gbagbo das Amt für seinen demokratisch Gewählten Nachfolger Alassane Ouattara zu räumen. Nun droht ein Bürgerkrieg. Der Konflikt hat bisher schon mehrere hundert Menschen das Leben gekostet, eine Million ist auf der Flucht. Die UN schließt einen Völkermord ruandischen Ausmaßes für die Zukunft nicht aus. Ouattara bekniet die UN, einzugreifen. Neben den katastrophalen Folgen für die Elfenbeinküste, würde ein Bürgerkrieg auch die gesamte westafrikanische Region destabilisieren. Sollten sich die Kämpfe zuspitzen und immer mehr Teile der ivorischen Bevölkerung fliehen, lässt sich auch ein zweiter Ost-Kongo nicht ausschließen.

Doch ohne Presse – ohne die Möglichkeit der Informationsbeschaffung für jeden einzelnen – existieren Konflikte nicht wirklich – zumindest nicht in der westlichen Wirklichkeit. Das heißt freilich nicht, dass die vergessenen Konflikte keine Opfer fordern, nur sind es stille Opfer, von denen wir nichts wissen. Wie es der Zufall will, verfügt Libyen über Erdölressourcen, die Elfenbeinküste über Kakao. Wie es der Zufall will, bedrohen Flüchtlingsströme aus Libyen die Festung Europa, ivorische Flüchtlingsströme andere ebenso vergessene westafrikanische Länder.

Dass die mediale Berichterstattung ausschlaggebend für politische Entscheidungen und Entwicklungen ist, haben nicht zuletzt die Wahlergebnisse des vergangenen Sonntag bewiesen. Dass Fukushima zu einem (temporären oder dauerhaften) Umdenken bezüglich der Energiegewinnung durch Kernkraft geführt hat und dass die Ereignisse in Japan die rheinland-pfälzischen, baden-württembergischen und hessischen Wähler zu teilweise historischen Wahlentscheidungen verleitet haben, bleibt unbestritten. Dass die Bundesregierung ihre policy derzeit ausschließlich danach ausrichtet, was im Wahljahr 2011 die meisten Wählerstimmen einbringt, zeigte sich bereits bei der Guttenberg-Affäre, spätestens aber nach dem AKW-Moratorium und der schwarz-gelben Enthaltung zum Libyen-Einsatz.

Fehlt die mediale Berichterstattung, kann es kein öffentliches Interesse an einem Thema geben, gibt es ergo auch kein politisches Einlenken. Als Mubarak sein eigenes Volk bekämpfte, schimpften viele, die Realpolitik der letzten Jahrzehnte, die die Diktaturen in den arabischen Ländern getragen hat, sei moralisch verwerflich. Wer schimpft heute darüber, dass es genauso moralisch verwerflich ist, den Wert eines Menschenlebens an Ölvorkommen, Auswirkungen auf die Weltwirtschaft und dem Ziel von Flüchtlingsströmen zu messen? Wenn die Würde des Menschen unantastbar ist, dann ist der Wert eines Menschenlebens nicht zu bemessen – so hat es auch das Bundesverfassungsgericht 2006 verkündet.

Um ein Einlenken in der Elfenbeinküste zu erreichen, darf die westliche Presse diesen Konflikt nicht vergessen, sie muss den potentiellen Wähler aufrütteln. Denn dass Politiker sich danach richten, was unter der eigenen Bevölkerung temporär beliebt ist, ist nichts Neues und in einem Wahljahr besonders präsent. Auch der ruandische Genozid hätte verhindert werden können, hätte die US-Regierung sich nicht vehement gegen ein UN-Mandat eingesetzt, weil die USA noch unter den Bildern der toten US-Blauhelme in Somalia 1993 litten, UN-Friedenseinsätze zu jenem Zeitpunkt in der amerikanischen Öffentlichkeit alles andere als populär waren und im November 1994 Kongresswahlen bevorstanden. Diejenigen, die im Februar die amerikanische und europäische Realpolitik im Nahen Osten kritisiert haben, sind nun verpflichtet, sich auch für die Ivorer einzusetzen. Tun sie es nicht, waren ihre Forderungen heuchlerisch und einzig auf Stimmenfang und Imagesteigerung aus. Wer die „Responsibility to protect“ für Libyen fordert, der kann die Elfenbeinküste (und viele andere vergessene Konflikte) nicht außer Acht lassen, ohne die eigene Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Doch die, die dem Libyen-Einsatz zähneknirschend zugestimmt haben, werden sich hüten, einer Intervention in der Elfenbeinküste zuzustimmen. Libyen ist für den Westen akuter – das Thema Elfenbeinküste wurde wegen der libyschen Sache auf der Tagesordnung des Sicherheitsrats vertagt. In Libyen stehen sich ein Diktator und unbekannte Rebellen gegenüber, dazwischen sehr viel Öl, in der Elfenbeinküste kämpft ein demokratisch gewählter Präsident mit einem Diktator um die Macht, dazwischen viele Menschenleben. Doch die Weltgemeinschaft und die einzelnen Staaten befürchten, jede Intervention könnte eine zu viel sein. Wie viel Moral kann sich Politik leisten? Und wenn wir irgendwann aus Kakaobohnen Energie erzeugen können, greifen der Westen und die UN dann ein, anstatt hinterher nur ein „Nie wieder“ zu deklarieren?

Happy Birthday!

Herzlichen Glückwunsch an Amnesty International zum 50-jährigen Bestehen!

Samstag, 26. März 2011

Die es schon immer wussten

Die Landtagswahlen an diesem Wochenende haben gute Chancen, in die Geschichte Baden-Württembergs einzugehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die CDU zum ersten Mal nach 58 Jahren monopolitischer Herrschaft in Stuttgart den Stuhl des Ministerpräsidenten räumen muss, ist hoch - die Möglichkeit für die Grünen, in einem Bundesland zum ersten Mal Seniorpartner einer Koalition zu sein, in realistischem Maße vorhanden. Sollte dieser Fall eintreten, bestätigen die Grünen eine im politischen Prozess durchaus übliche Entwicklung: In Wahlen siegt derjenige, der schon immer gewusst hat, dass die Politik der anderen falsch war - und es jetzt auch noch beweisen kann. Der ein oder andere Satiriker hat sich gar getraut, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen den Gedanken auszusprechen, den man als dem grünen Lager zugeneigte Wählerin gern verdrängen würde: Nämlich den Verdacht, dass bei aller Erschütterung über die Ereignisse in Japan so mancher Umweltaktivist sich insgeheim darüber freut, mit den eigenen Prognosen der Vergangenheit recht behalten zu haben (was übrigens nicht minder auf den allerdings zweifelsfrei bestätigten Vorwurf in Richtung der FDP zutrifft, dass diese eher ein verlängerter Arm von Lobbyisten denn Partei sei).
Sollten die baden-württembergischen Wähler (der nicht in Ba-Wü ansässige Leser sei an dieser Stelle eindrücklich auf die demographische Zusammensetzung der Bevölkerung verwiesen, die zu großen Teilen aus Bürgerlichen, Konservativen und Schwaben besteht) ihr Häkchen entgegen ihrer Gewohnheit bei den Grünen oder der SPD machen, erleben wir einen zusätzlichen historischen Moment: Es dürfte dann das erste Mal jener Fall eintreten, in dem außenpolitische, wenn nicht gar ausländische, Entwicklungen ausschlaggebend für die Entscheidung der Wahlberechtigten bei einer Landtagswahl gewesen sind. Sollten die Grünen die meisten Stimmen erhalten, liegt das nicht an ihrem Einsatz gegen "Stuttgart 21", sondern erstens an der Angst vor einer Atomkatastrophe wie in Japan und zweitens an der Kritik der Grünen am Beschluss der Bundesregierung, sich nicht an der UN-Resolution gegen Libyen zu beteiligen (und ein wenig auch an Herrn Brüderle, dessen Auftritt vorm BDI das diplomatische Geschick seiner Partei noch fragwürdiger erscheinen ließ als es der Mehrheit der Bevölkerung bislang bewusst war).
Man kann sich vielleicht auch darüber streiten, ob es wirklich die außenpolitischen Bedingungen sind, die dazu führen, dass der Wahlkampf der Grünen unter einem guten Stern steht. Vielleicht ist es doch die Innenpolitik, die die Menschen im Ländle dazu bewegt, sich ausnahmsweise "links" zu orientieren - Innenpolitik zumindest in Form der Empörung über die Inkompetenz der aktuellen Regierung, deren Entscheidungen man nunmehr per se falsch findet. Denn dass plötzlich alle Pazifisten aus den Reihen der grünen Wähler verschwunden sind, ist auch nach Joschka Fischer unwahrscheinlich.

Mittwoch, 9. März 2011

Kritikpause

bis 23. März bin ich auf Zeitungslesepause - danach hagelt es neue Posts.

Sonntag, 6. März 2011

Die Gegendarstellung: Sind Frauen zu feig, um Karriere zu machen oder Warum Quote endlich Mainstream werden sollte*

Von Magdalena


Lediglich eines von zehn Vorstandsmitgliedern in der EU ist eine Frau, und unter den Vorstandsvorsitzenden sind Frauen sogar nur mit drei Prozent vertreten. In Österreich wird nur eine Tageszeitung von einer Frau geleitet, in fast allen Ressorts außer Beauty/Lifestyle/Mode arbeiten mehr Männer, die schlechter ausgebildet sind, aber trotzdem bessere Positionen haben und mehr verdienen als ihre weiblichen Kolleginnen. Chancengleichheit? Fehlanzeige.

Trauen sich Frauen keine Karriere zu? Sind sie zu feig, um um bessere Jobs oder mehr Gehalt zu kämpfen? Viele würden wahrscheinlich den Weg des geringsten Widerstandes gehen, nicht anecken oder auffallen zu wollen und „gierig“ zu erscheinen, trifft wohl oft zu. Andererseits sind Frauen nach Jahrhunderten andauernder Unterdrückung nichts anderes gewöhnt, möglichst unscheinbar zu sein, gehört zum guten Ton und kann bei vielen Frauen schon fast als Urinstinkt gesehen werden. Gerade deshalb ist es wichtig, eine Quotenregelung einzuführen, auch um Frauen zu einem neuen Selbstbewusstsein zu verhelfen und um ihnen deutlich zu machen, dass sie auch das Zeug dazu haben, in Führungspositionen zu arbeiten.
Keine Frau oder kein Mann will eine Quotenfrau oder ein Quotenmann sein, vor allem dann nicht, wenn man nur wegen des Geschlechts und nicht wegen der Kompetenz eingestellt wird. Das ist verständlich. Doch um eine Gleichberechtigung in allen Bereichen der Gesellschaft im Sinne des Gender-Mainstreaming-Konzeptes umzusetzen, bedarf es – nach Meinung der Autorin dieses Beitrages – einer Quotenregelung. Für Männer, aber hauptsächlich für Frauen. In unserer männerdominierten Gesellschaft werden Frauen noch immer diskriminiert und ungleich behandelt. Die Strukturen sind festgefahren, Männer ruhen sich auf ihren Positionen aus. Klar, sie sind ja auch im Vorteil und – wenn man es so nennen möchte – auf der Sonnenseite des Lebens. Und warum sollte man was ändern, wenn doch – anscheinend – „eh alles gut so ist, wie es ist“? Menschen sind Gewohnheitstiere und Änderungen passieren meistens nur durch Druck oder Zwang. Genau deshalb ist die Frauenquote (in allen Bereichen bzw. auch eine Männerquote) sinnvoll und absolut dringend einzuführen, da es ansonsten in den nächsten 100 Jahren noch keine Gleichberechtigung und Gleichstellung von Mann und Frau geben.

Der Idee von Tobias, dass der Vorstand die Zusammensetzung der Belegschaft widerspiegeln soll, kann ich nicht viel abgewinnen. Erstens ist das keine Verbesserung, sondern Realität, denn – um klischeehaft zu sprechen – eine Kindergartenleiterin ist schätzungsweise zu 99 Prozent weiblich, der Chef einer Dachdeckerei vermutlich ebenfalls zu mehr als 90 Prozent männlich. Genau da liegt ein Problem begraben. Weder Männer „trauen“ sich in großer Anzahl in von Frauen dominierte Bereiche einzubrechen noch umgekehrt. Und warum? Vermutlich, weil sie sich dann unwohl/diskriminiert/“anders“ fühlen. Außerdem ist mir eine Statistik aus Österreich in Erinnerung, die besagt, dass die besten Teams und die beste Belegschaft jene mit Männern UND Frauen sind. Und nur so ist auch die Gleichberechtigung, die in der Gender-Mainstreaming-Strategie gefordert wird und gesetzlich verankert ist, zu erreichen. Denn, wie sonst sollte man Gleichberechtigung erzielen?

Wer in einer reinen Mädchen/Burschenklasse in der Schule war oder wer als Frau in einem Betrieb mit ausschließlich Frauen (und ein Mann in einem Betrieb mit Männern) gearbeitet hat, wird meine Erfahrung (hoffentlich) teilen: Es ist schrecklich! Und ich würde dort nicht arbeiten wollen. Und um solch einseitigen Belegschaften zu verhindern, wäre eine Frauen- bzw. eine Männerquote sinnvoll.

*Es sei angemerkt, dass es weder „die Männer“ noch „die Frauen“ im Allgemeinen gibt und jeder Mensch als Individuum betrachtet werden muss und sich meine Aussagen auf die Situation, wie ich sie wahrnehme, beziehen.

Samstag, 5. März 2011

Die BILD-Zeitungen der Gebildeten

Es gibt ein sehr wirksames Totschlagargument, mit dem Journalisten ihre Konkurrenten in Sekundenschnelle zu unseriösen Kollegen degradieren können, selbst wenn es sich bei diesen um Angestellte eines in der medieneigenen Hierarchie höher gestellten Blatts handelt. Der längst nicht mehr wortwitzige, da abgedroschene Vorwurf, bei dieser oder jener Zeitung handle es sich um eine "BILD der Gebildeten" ist weder sonderlich originell noch fair; man findet ihn aber neuerdings ständig in den politischen Kommentaren. Der um keine Spitze verlegene Heribert Prantl lehnt sich in seinem heutigen Leitartikel in der Süddeutschen Zeitung besonders weit aus dem Fenster: Weil DIE ZEIT das Fehlen charismatischer Politiker in der aktuellen Bundesregierung bedauert hat, bezeichnet er auch die renommierteste Wochenzeitung des Landes als "Bild-Zeitung der Gebildeten". Man kann sich nun fragen, ob sich die Beleidigung gegen die Macher der Zeitung richtet oder gegen ihre Leser, die trotz ihrer guten Ausbildung auf die Schlagzeilen der ZEIT hereinfallen oder gegen Giovianni di Lorenzo persönlich, auf dessen Leitartikel zur Causa Guttenberg sich die allgemeine Kritik an der Einstellung der ZEIT bezieht.
Heribert Prantl hat seinerseits zu Beginn der Plagiatsaffäre den Schaden bedauert, den Guttenbergs Betrügereien für die Demokratie nehmen, würde der Mann nicht zurücktreten. Wer die Aufrechterhaltung der Demokratie als Argument für den Guttenberg-Rücktritt anführt, muss aber auch die Demokratie in all ihren Facetten zu schätzen wissen. Dazu gehört zuallererst die Akzeptanz verschiedener Meinungen in verschiedenen Zeitungen. Nachvollziehbar finde ich die Logik des geschätzten Giovanni di Lorenzo persönlich nicht, Guttenberg hätte aus glamourösen Gründen auf seinem Ministerposten sitzenbleiben sollen. Als gebildete Leserin ist es mir aber möglich, den Meinungsunterschied zwischen mir und dem ZEIT-Chef zur Kenntnis zu nehmen und weiterhin bei meiner Meinung zu bleiben.
DIE ZEIT ist keine "BILD der Gebildeten", weil sie ihren Lesern die Reflexion kontroverser Leitartikel zutraut.
Im Übrigen ist DIE ZEIT nicht die einzige Zeitung, welche dieser unrühmliche Beiname ereilt hat. Ihrer Beilage, dem ZEIT Magazin, hat der BILD-Chef höchstpersönlich vorgeworfen, ein Boulevardblatt unter seriösem Deckmantel zu sein, nachdem es ausführlich über den Fall Kachelmann berichtet hatte. Der Spiegel und sein Online-Auftritt haben ständig mit dem Vorwurf zu kämpfen, eine Art BILD der, nunja, Gebildeteren zu sein. Und etliche Mitglieder hat eine Gruppe auf Facebook, die in der Gruner-und-Jahr-Publikation "Neon" eine "BILD für Studenten" sehen wollen.
Und die Süddeutsche? Die berichtet heute auf ihrer Seite Drei ausführlich über den geschassten Modedesigner John Galliano, nachdem ihr Magazin gestern die Frauengespräche von sechs Freundinnen zum Titelthema hatte und in diesem Jahr gefühlte zehn "Modehefte" herausgebracht hat. Die Süddeutsche ist die Vogue der politisch Interessierten. Aber das macht nichts. Ich interessiere mich auch für Mode.

Mittwoch, 2. März 2011

Kafka wer?

Kann man einen Leitartikel über Franz Kafka schreiben, ohne seine Heimatstadt zu erwähnen? Man kann. Lothar Müller kann es sogar sehr ausführlich. Die Frage, "was ich eigentlich bin" beschäftigt Kafka in der gestrigen SZ gleich mehrfach, und auch für Max Brods Einschätzung, Kafkas Erzählungen zählten zu den "jüdischesten Dokumenten unserer Zeit" ist an etlichen Stellen Platz. Beide sind Müllers Hauptargumente im Ringen um die wahre Identität des Franz Kafka. War er Jude? War er, wie die Neue Rundschau im Jahr 1916 schrieb, ein "Urdeutscher"?
Auch wenn der Feuilletonist letzterer Einordnung nicht unbedingt recht geben will - einen jüdischen, also israelischen, Anspruch auf noch unarchivierte Autographe aus Kafkas Nachlass will Müller auch aus dem Brod-Zitat nicht ableiten.
Um zu begründen, warum das Literaturarchiv in Marbach den größeren Anspruch auf Kafkas Manuskripte und Zeichnungen habe als die Israelische Nationalbibliothek, die sich derzeit in einem Verfahren mit Max Brods Erbinnen befinden, geht Müller den umgekehrten Argumentationsweg. Wie der Literaturwissenschaftlerin Judith Butler, auf deren neuestes Buch er sich beruft, erschließt sich Müller kein logischer Zusammenhang aus Kafkas jüdischem Selbstverständnis und der Klage der Israelischen Nationalbibliothek, bei Kafka handele es sich um jüdisches Kulturgut.
Butler und Müller bedienen sich hier eines Totschlagarguments: Israel repräsentiere nicht alle Juden, sagen sie, und Kafka war nie in Jerusalem. Stimmt. Nur ist dies genauso wenig eine Rechtfertigung für die Behauptung, Kafka gehöre nach Marbach. Denn nach dieser Logik hätte zumindest Österreich einen größeren Anspruch auf die Autographe als Deutschland.
Sich auf die gefühlte Identität Franz Kafkas zu berufen, ist einzig und allein heuchlerisch. Wer den letzten Willen Kafkas ignoriert, sollte sich auch keine Gedanken darüber machen, mit welcher Ethnie er sich wohl am meisten identifiziert hat.
Ein Identifikationsmoment ist bei Kafka allerdings offensichtlich und man muss sich in dem zitatelastigen Beitrag Lothar Müllers fragen, wo Kafkas Bekenntnis zu seiner Stadt, Prag, bleibt: "Dies Mütterchen hat Krallen" - sollte eigentlich die Frage, "wem Kafka gehört", beantworten.