Samstag, 5. März 2011

Die BILD-Zeitungen der Gebildeten

Es gibt ein sehr wirksames Totschlagargument, mit dem Journalisten ihre Konkurrenten in Sekundenschnelle zu unseriösen Kollegen degradieren können, selbst wenn es sich bei diesen um Angestellte eines in der medieneigenen Hierarchie höher gestellten Blatts handelt. Der längst nicht mehr wortwitzige, da abgedroschene Vorwurf, bei dieser oder jener Zeitung handle es sich um eine "BILD der Gebildeten" ist weder sonderlich originell noch fair; man findet ihn aber neuerdings ständig in den politischen Kommentaren. Der um keine Spitze verlegene Heribert Prantl lehnt sich in seinem heutigen Leitartikel in der Süddeutschen Zeitung besonders weit aus dem Fenster: Weil DIE ZEIT das Fehlen charismatischer Politiker in der aktuellen Bundesregierung bedauert hat, bezeichnet er auch die renommierteste Wochenzeitung des Landes als "Bild-Zeitung der Gebildeten". Man kann sich nun fragen, ob sich die Beleidigung gegen die Macher der Zeitung richtet oder gegen ihre Leser, die trotz ihrer guten Ausbildung auf die Schlagzeilen der ZEIT hereinfallen oder gegen Giovianni di Lorenzo persönlich, auf dessen Leitartikel zur Causa Guttenberg sich die allgemeine Kritik an der Einstellung der ZEIT bezieht.
Heribert Prantl hat seinerseits zu Beginn der Plagiatsaffäre den Schaden bedauert, den Guttenbergs Betrügereien für die Demokratie nehmen, würde der Mann nicht zurücktreten. Wer die Aufrechterhaltung der Demokratie als Argument für den Guttenberg-Rücktritt anführt, muss aber auch die Demokratie in all ihren Facetten zu schätzen wissen. Dazu gehört zuallererst die Akzeptanz verschiedener Meinungen in verschiedenen Zeitungen. Nachvollziehbar finde ich die Logik des geschätzten Giovanni di Lorenzo persönlich nicht, Guttenberg hätte aus glamourösen Gründen auf seinem Ministerposten sitzenbleiben sollen. Als gebildete Leserin ist es mir aber möglich, den Meinungsunterschied zwischen mir und dem ZEIT-Chef zur Kenntnis zu nehmen und weiterhin bei meiner Meinung zu bleiben.
DIE ZEIT ist keine "BILD der Gebildeten", weil sie ihren Lesern die Reflexion kontroverser Leitartikel zutraut.
Im Übrigen ist DIE ZEIT nicht die einzige Zeitung, welche dieser unrühmliche Beiname ereilt hat. Ihrer Beilage, dem ZEIT Magazin, hat der BILD-Chef höchstpersönlich vorgeworfen, ein Boulevardblatt unter seriösem Deckmantel zu sein, nachdem es ausführlich über den Fall Kachelmann berichtet hatte. Der Spiegel und sein Online-Auftritt haben ständig mit dem Vorwurf zu kämpfen, eine Art BILD der, nunja, Gebildeteren zu sein. Und etliche Mitglieder hat eine Gruppe auf Facebook, die in der Gruner-und-Jahr-Publikation "Neon" eine "BILD für Studenten" sehen wollen.
Und die Süddeutsche? Die berichtet heute auf ihrer Seite Drei ausführlich über den geschassten Modedesigner John Galliano, nachdem ihr Magazin gestern die Frauengespräche von sechs Freundinnen zum Titelthema hatte und in diesem Jahr gefühlte zehn "Modehefte" herausgebracht hat. Die Süddeutsche ist die Vogue der politisch Interessierten. Aber das macht nichts. Ich interessiere mich auch für Mode.

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